„Ja, wirklich, es ist erstaunlich! Wir haben so lange gewartet und jetzt ging alles ganz schnell.“ Grit klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr und nippte aufgeregt an ihrem
Kaffee. „Heute Nachmittag werden sie gebracht und Oliver hat mir versprochen, mittags zuhause zu sein. Er hat sich zwei Wochen Urlaub genommen, damit wir uns in der ersten Zeit gemeinsam um die
Zwillinge kümmern können. Immerhin wird es ein neuer Lebensabschnitt für uns werden.“ Sie sog tief die Luft ein und lief weiter nervös in der Wohnung umher, den Telefonhörer umklammert wie einen
Rettungsanker.
„Grit, komm schon, du brauchst doch keine Angst zu haben. Du und Oliver, ihr beide habt euch jahrelang vorbereitet auf diesen Moment. Sei doch froh, dass es nun soweit ist.“ Die Stimme von Svenja, Grits bester Freundin, sprach beruhigend auf sie ein. „Ihr Beiden seid die besten Eltern, die sich ein Kind vorstellen kann.“
„Und wenn sie mich nicht mögen? Wenn sie kommen und nur schreien? Es war immerhin überraschend, dass wir gleich mit Zwillingen beglückt werden und sie sind schon zwei Jahre alt. Unser Antrag lautete auf ein Baby von weniger als einem Jahr.“ Grits Stimme begann sich zu überschlagen und kurze, hysterische Schluchzer vermischten sich mit ihrem Atem.
„Weißt du was, ich komm am Wochenende vorbei und unterstütz dich. Wenn jemand mit so einer Situation umgehen kann, dann bist du es. Dazu kenn ich dich zu gut. Organisationstalent durch und durch. Und jetzt leg dich noch mal kurz aufs Ohr, denn dazu wirst du in nächster Zeit nicht mehr oft Gelegenheit haben.“
Grit musste unwillkürlich lachen. „Du schaffst es doch immer wieder mich auf die richtige Bahn zurück zu schubsen. Danke Svenja und wenn du wirklich Lust hast am Wochenende zu
kommen, dann freue ich mich. Aber mit dem Ausruhen wird es wohl nichts. Ich muss noch in den Supermarkt spurten. Es gibt Einiges zu besorgen. Danke, dass es dich gibt!“ Grit hauchte noch ein schnelles Küsschen ins Telefon und steckte den Apparat zurück in die Station.
Sie ging langsam durch die Räume ihres Reihenhauses und versuchte es aus den Augen eines Kindes zu betrachten. Das Wohnzimmer war heute durchflutet von Sonnenlicht, das durch die breite Fensterfront fiel, die zum Garten führte.
Oliver hatte dort eine Schaukel und einen Sandkasten aufgestellt. Gleich nach dem Anruf der Behörde war er in den Baumarkt gefahren und der jungenhafte Eifer brachte sein Gesicht zum Glühen. Er hatte sich so gefreut. Zwillinge! Grit war erschrocken aber er hatte es mit einem Freudenschrei aufgenommen. Sie konnte ihm dieses Glücksgefühl nicht verderben indem sie ihm ihre Zweifel und Ängste offenbarte.
Als sie sich vor fünf Jahren zur Adoption entschlossen hatten, begann sich das Gefühl der Leere, das seit der ärztlichen Diagnose in ihr vorherrschte, in ein sehnsuchtsvolles Warten zu wandeln. Sie erinnerte sich an das Herzklopfen bei jedem Klingeln des Telefons und an die tiefe Enttäuschung nur wieder eine bekannte Stimme aus der Familie oder dem Freundeskreis zu hören. Oliver hatte sofort begonnen ein Kinderzimmer einzurichten, das danach mehr und mehr als Gästezimmer missbraucht wurde. Irgendwann flaute auch die innere Erregung ab und sie arrangierte mit Oliver ein Leben, das auch ohne die ersehnten Kinder harmonisch und ausgefüllt war. Sie waren glücklich in ihrer Zweisamkeit und sie fing an die Unabhängigkeit zu genießen. Und dann kam plötzlich dieser Anruf, als sie schon nicht mehr daran glaubten.
„Wären Sie auch bereit Zwillinge bei sich aufzunehmen?“, tönte die bürokratische und emotionslose Stimme am anderen Ende der Leitung. Oliver hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt, damit
auch sie jedes Wort hören konnte. Sie nahm wahr, wie es in seinen Augen funkelte und in dem Moment war ihr klar, wie sehr er während der ganzen Zeit noch auf den Familienzuwachs gehofft
hatte. Es gab ihr einen Stich ins Herz. War sie nicht ausreichend für ihn, so wie er für sie? Schnell versuchte sie diesen Gedanken wieder abzuschütteln. Sie wollte immer Mutter sein und sie
würde es in vollen Zügen genießen. Die, durch einen Verkehrsunfall, elternlos gewordenen Jungen sollten eine wundervolle Kindheit haben. Und, nein, sie würde nicht eifersüchtig sein, wenn sie
Olivers Liebe nun teilen musste. Wie konnte sich nur so ein idiotischer Gedanke in ihre Seele bohren.
„Wir werden die glücklichste Familie der Welt sein!“; sagte sich zu sich und packte entschlossen Jacke und Schlüsselbund. „Und jetzt sieh endlich zu, dass du in den Supermarkt kommst.“