„Verdammte Scheiße !“ dachte Bruno als er sich in dem Gerichtssaal umsah, den er gerade an der Seite seines Pflichtverteidigers betrat. „So eine gottverdammte Scheiße.“ Wie hatte es nur soweit kommen können. Er versuchte eine über alles erhabene Mine aufzusetzen und hoffte, dass es nicht zu offensichtlich war, dass er sich am liebsten übergeben würde oder in die Hose pinkeln, dass er unsicher war, nervös und eine Heidenangst hatte. Letzte Woche hatte er in der U-Haft seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert – eingesperrt in einer kleinen Zelle.
„Super,“ grinste er in sich hinein, „wer kann später schon erzählen seine Volljährigkeit im Knast gefeiert zu haben.“ Das war sein Galgenhumor, der ihm half, wieder zu seiner gewohnten Lässigkeit zurückzukehren.
Sie hatten ihn, auf Anraten seines Anwalts, einigermaßen adrett zurechtgemacht. Saubere Jeans, Turnschuhe, ein weißes T-Shirt an dem er die ganze Zeit schnüffeln musste, weil es so herrlich nach Waschmittel roch. Das erinnerte ihn an die Jahre seiner Kindheit, die er bei seinen Großeltern verbracht hatte. Dort hing auch immer dieser „Frau-Clementine-Geruch“ in der Luft. Seine schwarzen Haare waren frisch geschnitten und nur sein Augenbrauenpiercing gab ihm noch einen leicht verruchten Touch. Das T-Shirt schlotterte etwas an seinem knochigen Oberkörper und die, zwar muskulösen, aber hageren Arme hingen lustlos herunter. Wenigstens musste er keine Handschellen tragen, wie vor drei Monaten, als sie ihn bei seinen Pflegeeltern in diesem Spießerdorf abgeholt hatten und in den Polizeiwagen verfrachteten. Die Nachbarn drückten sich vor lauter Neugier die Nasen an den Fenstern platt oder öffneten einen winzigen Spalt die Eingangstüren um alles mitzubekommen, aber ja nicht gesehen zu werden. Wieder grinste er in sich hinein. „Verlogenes Pack,“ grummelte es in ihm. Um Anna und Herbert, seine Pflegeeltern tat es ihm schon etwas leid. Er mochte sie wirklich gern, was er ihnen nie gezeigt hatte und jetzt auch nicht wusste, ob das noch nachzuholen war. Seine vermeintlichen Geschwister, die beiden Kinder von Anna und Herbert, waren ihm schnurzegal. „Verzogene Gören, haben doch keinen Schimmer was wirklich abgeht.“ Sie würden sich freuen, dass er endlich aus dem Weg war und sie wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern erhielten. Dank ihnen hatte er sich schließlich wie ein Fremdkörper in dieser „ach so intakten“ Familie gefühlt, die es sich zur sozialen Pflicht auserkoren hatte, einen jungen Mann wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Sie hätten es auch fast geschafft. Auch wenn er es sich ungern eingestand, er war auf dem besten
Weg gewesen, dieses Leben als angenehm zu empfinden. Und das nach all den Widrigkeiten, die ihm seine Kindheit vergiftet hatten. Eingelullt in schöne Regelmäßigkeit hatte er schon richtig die Lust verloren, sich querzustellen, sich durchzuboxen, sich um jeden Preis aufzulehnen. Dieses entsetzliche Vorleben von Recht und Pflicht, das seine Pflegeeltern praktizierten, hatte ihn wirklich mürbe gemacht und er hatte sich auch noch wohl gefühlt dabei. Zum ersten Mal seit seiner frühesten Kindheit, aus der noch diese Großelternerinnerungen stammten, war es warm in ihm gewesen und eine Zufriedenheit hatte sich ausgebreitet. Ob er es wohl schaffte, dieses Gefühl zurückzubekommen ? Er war sich nicht sicher. Vielleicht hatte er sich diese Chance nun endgültig verbaut.
Es wäre ja gar nicht soweit gekommen, wenn er sich nicht zu dieser Prügelei hätte hinreißen lassen. Aber er war so wütend auf Klaus gewesen, als er ihn mit Corinna gesehen hatte und beobachten musste, wie sie herumknutschten. Klaus wusste genau, dass er immer noch total verknallt in Corinna war, auch wenn sie zwei Wochen vorher mit ihm Schluss gemacht hatte. An seinen Gefühlen hatte das nichts geändert und er war sich sicher gewesen, sie wieder zurückzubekommen. Aber Klaus konnte ja seine Finger nicht von ihr lassen und musste es auch noch direkt vor ihm demonstrieren. Und dann war der Trottel auch noch so bescheuert gegen diesen Pfosten gefallen, dass er einen Schädelbruch erlitt. Klar, dass nun jeder die Schuld bei ihm suchte, als ob er diesen Ausgang beabsichtigt hätte.
Jetzt hatte er einen Prozess wegen schwerer Körperverletzung am Hals und mit seinen ganzen Jugendstrafen, die sie ihm nun wieder unter die Nase rieben, sah es gar nicht gut aus. Er würde wohl nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen und wenn ja, ob ihn seine Pflegeeltern noch mal zurücknehmen würden, war mehr als fraglich. Er suchte sie im Gerichtssaal. Sein Blick wanderte über die Bänke und in der dritten Reihe sah er Anna, die sich auf ihn konzentrierte. Er konnte die Enttäuschung in ihren Augen erkennen und es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er schickte ein schiefes Lächeln in ihre Richtung und hoffte, dass sie es richtig verstehen würde. „Entschuldige,“ sollte es ihr sagen und „bitte glaub weiter an mich.“ Sie lächelte traurig zurück. Ja, sie hatte verstanden. Bruno war sicher. Herbert war nicht zu sehen. „Schade,“ dachte Bruno, „er hat mich jetzt wohl aufgegeben. Naja, selber Schuld. Ich werd es ihm schon noch zeigen, dass nicht alles umsonst war, was sie mir beizubringen versuchten.“